Die Leistungen der außerklinischen Intensivpflege werden künftig regelhaft in vollstationären Pflegeeinrichtungen, die Leistungen nach § 43 des Elften Buch Sozialgesetzbuch erbringen, oder in speziellen Intensivpflege-Wohneinheiten, die strengen Qualitätsanforderungen unterliegen, erbracht.

Sehr geehrter Herr Spahn,

den einleitenden Abschnitt habe ich wörtlich aus der Präambel Ihres Referentenentwurfs „eines Gesetzes zur Stärkung von Rehabilitation und intensiv-pflegerischer Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung“ zitiert.
Erlauben Sie mir, dass ich mich kurz vorstelle: Ich heiße Tim, bin 30 Jahre alt, verfüge über einen Master of Science und arbeite derzeit als Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Mathematik an einer großen deutschen Universität. Ich verreise gerne, spiele in einem Schachverein, interessiere mich (wie Sie) für Politik, besuche regelmäßig Rockkonzerte oder Diskotheken und ich schlage mir die Abende und Nächte gerne stundenlang mit strategischen Brettspielen um die Ohren.

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Sollte Ihr Entwurf zu einem Rehabilitations- und Intensivpflegestärkungsgesetz unverändert verabschiedet werden, würde ich stattdessen in einer vollstationären Pflegeeinrichtung leben.

Ich habe eine neuromuskuläre Erkrankung namens Spinale Muskelatrophie. Nachdem ich im Alter von 4 Jahren innerhalb eines Jahres aufgrund von Lungenentzündungen fünfmal intubiert werden musste und viele Versuche zur Einstellung einer nicht-invasiven Atmungsunterstützung gescheitert sind, wurde mir im November 1993 ein Luftröhrenschnitt gelegt. Seither lasse ich mich (mit Pausen von maximal 15 Minuten) maschinell bei der Atmung unterstützen und genau diese Atemunterstützung hat mich seither vor weiteren lebensbedrohlichen Lungenentzündungen bewahrt und die Bildung einer klareren Stimme ermöglicht, als ich sie aller Voraussicht nach ohne Beatmung heute gehabt hätte. Für mich ist die Dauerbeatmung für sich genommen keine Behinderung, sondern ein willkommenes Hilfsmittel.

Die Bedürfnisse an meine Beatmungspflege sind über viele Jahre gewachsen und dementsprechend sehr individuell. Früher habe ich zu diesem Zweck Zivildienstleistende persönlich eingewiesen, die mich anschließend ein Jahr lang in die Schule (Körperbehinderten-Grundschule gefolgt von Regelgymnasium) begleitet haben. Heute lebe ich selbstständig mit persönlicher 24-Stunden-Assistenz über eine Verordnung häuslicher Krankenpflege, die Verantwortung für die Einarbeitung meiner persönlichen Assistenten und für die Einhaltung meiner Pflegestandards trage ich selbst.

Von Ihrem neuen Gesetzentwurf bin ich zutiefst erschüttert und enttäuscht. Als Begründung hierfür muss ich lediglich die ersten Zeilen des Entwurfs zitieren:

Das Fünfte Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Krankenversicherung – (Artikel 1 des Gesetzes vom 20. Dezember 1988, BGBl. I S. 2477, 2482), das zuletzt durch Artikel des Gesetzes vom (BGBl. I. S. ) geändert worden ist, wird wie folgt geändert:

§ 37 Absatz 2 Satz 3 wird wie folgt gefasst:

„Der Anspruch nach Satz 1 besteht nicht für Versicherte mit einem besonders hohen Bedarf an medizinischer Behandlungspflege, die Anspruch auf Leistungen nach § 37c haben.“

Es bedarf keinerlei freizügiger Interpretation, um festzustellen, dass Sie hiermit eine bestimmte Personengruppe explizit vom Anspruch und vom Recht auf ein selbstbestimmtes Leben ausschließen möchten. Dies widerspricht fundamental der UN-Behindertenrechtskonvention vom 3. Dezember 2009 und ebenso fundamental dem dort gefassten Leitsatz „ambulant vor stationär“.

Sie wenden sich in Ihrem Gesetzentwurf zwar explizit gegen finanziellen Missbrauch seitens der Krankenhäuser, räumen aber Ihrerseits auf Seite 19 ausdrücklich selbst finanzielle Motive für Ihren Gesetzentwurf ein:

Durch Verbesserungen der Qualität im Bereich der außerklinischen Intensivpflege, verbunden mit einer regelhaften qualitätsgesicherten Leistungserbringung in vollstationären Pflegeeinrichtungen, die Leistungen nach § 43 des Elften Buches erbringen, oder in speziellen Intensivpflege-Wohneinheiten können im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung bei voller Jahreswirkung erhebliche Minderausgaben in einem mittleren dreistelligen Millionenbetrag entstehen.

Wir wissen beide genau, was in diesem Abschnitt zu den zitierten erheblichen Minderausgaben seitens der gesetzlichen Krankenversicherung führen soll:
Es ist nicht die angekündigte Verbesserung der Qualität.
Es ist stattdessen die Verwehrung von Grundrechten für eine bestimmte Gruppe von Personen.

Gemäß der UN-Behindertenrechtskonvention bitte ich Sie nachdrücklich, Ihren Gesetzentwurf um folgende Paragraphen zu ergänzen:

  • Der Patient, an dem Bedarf für außerklinische Intensivpflege oder häusliche Krankenpflege festgestellt wurde, bestimmt schriftlich sowohl die Standards, die bei der außerklinischen Intensivpflege im individuellen Fall gelten sollen (und er trägt die Verantwortung für deren Einhaltung), als auch im Sinne der Selbstbestimmung den Ort, an dem diese geleistet werden soll. Wenn der Patient zu einem Gesichtspunkt der Pflegegestaltung keine Angaben festsetzt oder im rechtlichen Sinne nicht dazu imstande ist, gelten automatisch die übrigen Standards und Bestimmungen des RISG, die aber im Einzelnen von einem mündigen Patienten jederzeit widerrufen werden können.
  • Ein Entwöhnungsversuch von der Beatmung kann von einem mündigen Patienten abgelehnt werden, ansonsten gelten hier die Richtlinien des RISG.

Viele Menschen aus meinem näheren Umfeld werden jetzt sagen, dass sich für mich persönlich bestimmt eine Ausnahmeregelung finden lassen würde. Es scheint offensichtlich, dass mein Fall nicht zu denen gehört, die die Schreiber des Gesetzentwurfs vordergründig im Sinn gehabt haben.

Darum soll es aber nicht gehen, denn ich möchte nicht ausdrücklich als Ausnahme deklariert werden müssen. Ich hoffe, dass ich hiermit auch für viele Menschen spreche, die in Zukunft mal auf eine Form von Dauerbeatmung angewiesen sein werden (muss nicht infolge einer chronischen Erkrankung sein, ein gewöhnlicher Verkehrsunfall kann es auch schon tun) oder die es bereits sind und bald das 18. Lebensjahr überschreiten werden.
Jedes Gesetz zur Langzeitpflege von unbestimmter Dauer soll zuerst vom selbstbestimmten, mündigen Patienten ausgehen und anschließend gesetzliche Regelungen treffen für Fälle, in denen der Patient diese Regelungen nicht selber treffen kann oder möchte.

Nicht umgekehrt.

Ich würde mich über eine Antwort von Ihnen persönlich auf meine Stellungnahme sehr freuen und ich setze mich auch gerne in irgendeiner Form in einem persönlichen Gespräch mit Ihnen zusammen (sitzen tue ich ohnehin schon). Sie werden ohnehin weiterhin auf dem einen oder anderen Weg von mir zu hören bekommen. Garantiert.

Liebe Grüße,
Tim