Bisher habe ich es immer für eines der widerlichsten Aspekte des Lebens bzw. Ablebens erachtet, dass es möglich ist, zu sagen: „Am Mittwoch, den 14. Oktober, werde ich sterben.“ So geht die Entzauberung der Welt. Alles ist planbar. Keine Überraschung, kein Erschauern, kein Entsetzen, keine Erlösung.

Jetzt zwingen mir die Technokraten des Gesundheitssystems mit ihrem Reha- und Intensivpflegestärkungsgesetz (RISG) so etwas auf. Darin gibt es ein paar Paragrafen, die Menschen betreffen, die besonders pflegeaufwendig beatmet werden müssen. Zu denen gehöre ich. Dank der hochentwickelten Medizintechnik kann das ohne Probleme in der eigenen Häuslichkeit, aber auch auf Reisen oder auf einem Ausflug oder Einkauf in der Stadt geschehen.

Nun aber soll das nicht mehr möglich sein. Und zwar – so die zynische Begründung – im Interesse der Betroffenen. Sie würden schlecht versorgt, weil es zu wenig Fachkräfte gibt. Deshalb müssten sie nun ins Heim – ob sie wollen oder nicht. Dort wird es dann Fachkräfte geben.

Tatsächlich ist der Fachkräftemangel im Bereich der Beatmung schon jetzt für einige Betroffene eine Katastrophe. Aber lässt sich das stationär tatsächlich lösen? Und ist darüber hinaus eine Zwangseinweisung vereinbar mit dem hohen Gut der Freiheit in einer Demokratie? Und wo liegt die Notwendigkeit, das nicht nur für tatsächlich Betroffene sondern einfach für alle anzuwenden, auf die diese Kriterien zutreffen, obwohl es bei ihnen gut läuft und sie zufrieden sind?

Für Menschen wie mich ist der frühere Tod mit der Unterbringung in einer Einrichtung vorprogrammiert. Konkret gibt es auch in den besten Häusern keine durchgehende alleinige Anwesenheit einer Pflegeperson, wie es sich beim Leben in der Wohnung automatisch ergibt. Bei Notfällen – und die können bei Trachealkanülen durchaus mehrmals am Tag auftreten – sind 5 Minuten Verzögerung oft genug das Ende.

Ich habe gehört – und kann mir das auch gut vorstellen –, dass jetzt schon in einigen Einrichtungen vorsätzlich Geräte abgeschaltet werden, um Menschen sterben zu lassen. Im Nachhinein wird es dann als technischer Defekt deklariert. Das ist nicht einfach, aber durchaus möglich.

Für mich konkret wäre eine stationäre Unterbringung noch schneller als für andere tödlich, weil ich einen sehr speziellen empfindlichen Körper habe. Jedes Krankenhaus, auch die Intensivstation in der Charité, die speziell auf beatmete Patienten eingestellt ist, ist froh, dass ich meine Assistenten mitbringe. Die wissen alle viel besser als die Fachleute, welche Stellen meinem Brustkorb sie drücken, wenn ich mich verschlucke, oder wie sie den Kehlkopf zwischen die Finger nehmen müssen, falls ich durch zähen Schleim Atemnot bekomme. Darüber hinaus können sie mich so anfassen, heben und tragen, dass ich keine Schmerzen habe und Verletzungen davontrage. 

Im normalen Stationsbetrieb wäre ich schon deshalb bald hinüber. Ich würd‘ selbstverständlich palliativ behandelt; also wegen der höllischen Schmerzen sehr starke Mittel erhalten, welche die Atmung extrem abflachen. Bei Leuten, die wegen ihrer Muskelschwäche beatmet werden, dauert es nicht lange, dass sie deshalb sterben. Es soll ein sanfter relativ angenehmer Tod sein.

Gut – mein Todesdatum konkret weiß ich nicht. Aber so in etwa lässt es sich absehen. Der Gesetzentwurf geht jetzt durch verschiedene Gremien und wird etwas windschlüpfiger gemacht. Das dürfte bis Weihnachten geschehen. Im Januar/Februar 2020 wird er verabschiedet. In Kraft tritt er spätestens Anfang 2021, wahrscheinlich schon Juli 2020. Von daher habe ich – aber nur, weil ich Bestandsschutz habe – 36 Monate Zeit. Dann gilt auch für mich es nicht mehr als unzumutbare Härte, anstatt in meiner Wohnung in einer Einrichtung zu zu hausen.

Ich habe dann zwar schon fast 50 Jahre in einer Wohnung (meist in der eigenen) gelebt, aber irgendwie scheint das egal. Im Hochsommer 2024 werde ich also wahrscheinlich meine Bude in der Stuttgarter Straße 46 in Berlin-Neukölln für immer verlassen. Auf- bzw. ausräumen kann sie Jens Spahn oder jemand, den er dafür bezahlt. Jedenfalls werde ich nicht noch alles hübsch hinterlassen, wenn ich vertrieben werde.

Dem, der das alles nicht nur verantwortet, sondern auch als sein besonderes Anliegen betreibt, Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, bin ich schon mehrmals begegnet, weil ich bei der konzertierten Aktion Pflege (KAP) als Vertreter der Betroffenen nach § 118 SGB XI mitgearbeitet habe.

In meiner Arbeitsgruppe waren über 50 Leute aus dem gesamten Bundesgebiet: fast alles höhere Beamte, Pflegewissenschaftler, Vertreter der Pflegeanbieter und Wohlfahrtsverbände, Funktionäre und Lobbyisten. Alle wirtschaftlich sehr gut ausgestattet und fast immer mit Sekretariaten und Zuarbeitern versehen. Ich hingegen checkte, wenn ich abends nach Hause kam, noch meine diesbezüglichen Mails und versuchte sie bis zum Zubettgehen zu durchdringen und zu verstehen. Es kostete mich als Nichtjuristen oder Nichtpolitologen einiges an Mühe, auf ein Niveau zu gelangen, von welchem aus die Betroffeneninteressen auch halbwegs hinreichend wahrgenommen werden konnten. Jedenfalls war die Mitarbeit in der Arbeitsgruppe anstrengend und brachte mir finanziell nichts ein.

Am Ende bedankte sich der Minister bei uns allen für unsere Mühe. Ich hoffe, ich war damit auch gemeint. Nach dem Gesetzentwurf wäre ich schon vor Jahren auf Station gelandet und somit gar nicht mehr in der Lage dazu gewesen, diese Arbeit zu leisten und dafür am Ende auch noch den Dank des Ministers abzufassen. Nach dem Gesetzentwurf wäre ich längst schon tot.

Matthias Vernaldi

*) Matthias Vernaldi ist leider am 09. März 2019 verstorben. R.I.P.

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